Terre des hommes erweist syrischen Flüchtlingskindern einen Bärendienst – Kritische Anmerkungen zum Kinderarbeit-Report 2016

Die große Not syrischer Kinder, die unter den Bedingungen des Krieges leben müssen oder sich auf der Flucht befinden, ist gewiss ein Thema, das größere Beachtung verdient. Dazu gehört auch, genau hinzusehen, wo die Notlage der Kinder ausgenutzt wird, um sie wirtschaftlich oder sexuell auszubeuten oder für militärische Zwecke zu missbrauchen. Doch der jüngst von der Kinderhilfsorganisation terre des hommes veröffentlichte Kinderarbeits-Report 2016 zu diesem Thema erweist den Kinderflüchtlingen einen Bärendienst. Er trägt nicht zur Verbesserung ihrer Lage bei, sondern leistet ihrer weiteren Diskriminierung und Marginalisierung Vorschub – auch wenn dies gewiss nicht gewollt ist.

Der Report wurde im Juni 2016 im Namen der Internationalen Föderation Terre des Hommes, in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht. Die deutschsprachige Version trägt den Titel: Kinderarbeits-Report 2016. „Weil wir überleben wollen“. Kinderarbeit unter den Flüchtlingen des Syrienkonfliktes. Als Ziel des Reports wird bezeichnet, „das Problem der Kinderarbeit, einschließlich ihrer schlimmsten Formen, unter den Flüchtlingen des Konfliktes in Syrien und die enormen Auswirkungen auf die Region zu beleuchten“ (S. 9). Die daraus abgeleiteten Empfehlungen konzentrieren sich „auf Schutz- und Präventionsmechanismen für Kinder“ und beanspruchen ohne jegliche Bescheidenheit, „vielversprechende Maßnahmen und Vorgehensweisen“ aufzuzeigen (S. 9).

Es ist zweifellos ein Verdienst, auf die prekäre Situation und das Leiden der Kinder, die unter den Bedingungen des Krieges in Syrien gegenwärtig aufwachsen und zu einem erheblichen Teil in andere Länder fliehen mussten (und müssen), in einem Report aufmerksam zu machen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie ihre Lage verbessert werden kann. Zu fragen ist allerdings, ob dies in dem vorliegenden Report auf eine Weise geschieht, die tatsächlich der Situation der Kinder gerecht wird und ihnen zugutekommt. Wenn, wie in dem Report geschehen, der Schwerpunkt auf „das Problem der Kinderarbeit“ gelegt wird, ist im Besonderen zu fragen, ob dies in genügend differenzierter Weise geschieht und die unter diesem Terminus vereinten Tätigkeiten nicht nur angeklagt und skandalisiert, sondern auch unter Beachtung der konkreten Lebensumstände als aktiver Beitrag der Kinder gewürdigt werden.

Von einer Organisation, die in erster Linie praktische Zielsetzungen verfolgt, ist nicht zu erwarten, dass sie eine Untersuchung vorlegt, die wissenschaftlichen Maßstäben entspricht. Aber es ist sehr wohl zu erwarten, dass sie die wichtigsten Grundsätze und Erkenntnisse der Forschung zur Arbeit von Kindern beachtet sowie die in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Rechte der Kinder in umfassender und dem Kontext angemessener Weise aufgreift und in geeignete Handlungsvorschläge und Forderungen übersetzt. Dazu gehört auch, sich in einer sprachlichen Form auszudrücken, die die Aussagen und Absichten des Reports in kohärenter und möglichst unmissverständlicher Weise nachvollziehbar werden lässt.

Der Report beginnt mit dem Satz: „Terre des hommes hat eindeutige Belege dafür gefunden, dass syrische Kinder Gefahr laufen, in die Kinderarbeit, einschließlich ihrer schlimmsten Formen, gezwungen zu werden: in Syrien selbst, in den Nachbarländern und auf der Flucht durch Europa“ (S. 4). Die Kinder werden als „Opfer von Kinderarbeit“ (S. 4) bezeichnet. Die an zahlreichen Stellen des Reports gebetsmühlenartig wiederholte Formulierung „Kinderarbeit, einschließlich ihrer schlimmsten Formen“ legt den Eindruck nahe, dass nicht nur die sog. schlimmsten Formen, sondern die Arbeit von Kindern insgesamt als Problem betrachtet wird, das umfassend zu bekämpfen ist. An keiner Stelle des Reports wird versucht, die angesprochenen verschiedenen Formen der Arbeit von Kindern in differenzierter Weise, also auch im Sinne möglicher positiver Bedeutungen für die Kinder, ihre Familien und die jeweilige Gemeinschaft zu betrachten.

Die arbeitenden Kinder werden ausschließlich als Opfer dargestellt, die zum Spielball übermächtiger Umstände werden. Der in der Darstellung der Probleme vorherrschende Automatismus schließt aus, die Kinder auch als handelnde Subjekte wahrzunehmen, die mit ihrer Arbeit zumindest teilweise eigene Absichten verfolgen, eigene Sichtweisen haben und zur Lösung der auftretenden Probleme selbst beitragen könnten. Indem die Arbeit der Kinder in anklagender Weise ausschließlich als Problem dargestellt wird, bleibt ausgeblendet, dass sie selbst in vielen Situationen dazu beiträgt, alltägliche Probleme zu bewältigen, und von den Kindern auch so verstanden und bejaht wird. Stattdessen wird sie an allgemeinen, von außen herangetragenen Maßstäben einer idealisierten Kindheit nach westlichen Maßstäben gemessen und verurteilt. Die aus der Not geborenen und zu ihrer Linderung beitragenden Aktivitäten der Kinder werden unisono in das Begriffsschema der „Kinderarbeit“ gepresst, ohne genauer nach ihrem Sinn und ihren verschiedenen Bedeutungen in der konkreten Situation zu fragen.

Mit Blick auf Syrien im 6. Kriegsjahr heißt es unter Bezug auf Beobachtungen eines Bereichsleiters von terre des hommes für psychosoziale Hilfen (S. 15): „Kinder sind in allen möglichen Arbeitsfeldern zu finden: in bezahlter und unbezahlter Arbeit, in selbstorganisierten oder angestellten Verhältnissen. Kinder arbeiten zum Beispiel in der Landwirtschaft, beim Straßenverkauf, in der Metall- oder Holzverarbeitung, sie waschen Autos oder betteln. Sie schmuggeln Waren über die Grenzen oder über Frontlinien hinweg, sammeln Ölreste oder leisten Hausarbeit, sie besorgen Wasser oder sammeln Essbares auf Müllhalden oder Feldern.“ Die aufgezählten Arbeiten der Kinder sind zwar größtenteils aus der Not geboren, finden aber offensichtlich unter ganz verschiedenen Bedingungen statt und haben für die Kinder keineswegs nur negative Folgen. Gleichwohl werden sie eingerahmt in den Kommentar, in Syrien seien „mehr und mehr Kinder gezwungen, eine Arbeit aufzunehmen“ (S. 15) und die Familien seien „gezwungen, Strategien zu entwickeln, um ihre verzweifelte Lage zu bewältigen (S. 15). Auf diese Weise wird der schiefe Eindruck erweckt, dass jegliche Arbeit der Kinder erzwungen und folglich zu verurteilen sei.

Der Report beruft sich teilweise auf die Kinder selbst, mit denen in einigen Fällen, wo es die Umstände zuließen, Gruppendiskussionen durchgeführt wurden. Unter Bezug auf eine solche in einem Lager in Griechenland mit syrischen und irakischen Kindern durchgeführte Diskussionen heißt es beispielsweise (S. 15 f.): „Ihrer Ansicht nach ist es nicht problematisch zu arbeiten, wenn die Arbeit ihre körperlichen Kapazitäten nicht überfordert (wie beispielsweise Arbeit auf dem Bau) oder wenn die Arbeit nicht mehr als 20 Stunden am Tag beansprucht. Alle in Griechenland befragten Kinder gaben an, dass sie in ihrem Heimatland im Schnitt zwischen 16 und 20 Stunden am Tag arbeiteten. Zudem sprachen die syrischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer von ihren persönlichen Erlebnissen im Krieg, wo sie an Bestattungsarbeiten beteiligt waren, die sie als für sie geeignet ansahen. »Wir können uns um getötete Menschen kümmern; zum Beispiel können wir ihre Körperteile einsammeln, um sie zu begraben«, sagte einer der Teilnehmer.“ Obwohl die Kinder offensichtlich ein positives Verständnis ihrer Tätigkeiten haben und diese als notwendigen Beitrag zur Lösung der alltäglichen Probleme bejahen, wird durch die Art, in der sie präsentiert werden, der Eindruck erweckt, die Kinder seien nicht in der Lage, die problematischen Aspekte ihrer Arbeit zu erkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das Ziel der Darstellung scheint allein darin zu bestehen, einen Schauder darüber zu erzeugen, was unschuldigen Kindern zugemutet wird.

Im Report finden sich weitere Aussagen von Kindern, aus denen hervorgeht, dass die Kinder die verschiedensten Arbeiten übernehmen, weil sie sich mitverantwortlich fühlen, und dass sie sich diese Arbeiten durchaus zutrauen. Doch statt die Worte der Kinder ernst zu nehmen und die positiven und negativen Aspekte der beschriebenen Arbeiten miteinander abzuwägen, wird der allgemeine Eindruck vermittelt, die Kinder seien der Situation nicht gewachsen und würden letztlich nur missbraucht. Es soll hier keineswegs bestritten werden, dass die Bedingungen, unter denen die Kinder in den bombardierten syrischen Städten und in den Flüchtlingslagern leben, ebenso wie die Bedingungen, unter denen sie oft arbeiten müssen, unzumutbar sind. Doch es wäre zu erwarten gewesen, dass sie als mögliche und durchaus kompetente Partner angenommen werden, die bei der Suche nach Lösungen für die täglichen Probleme eine aktive Rolle spielen können.

Bei der Suche nach Lösungen erweist sich auch als gravierendes Hindernis, dass die für den Report verantwortliche Terre des Hommes Föderation sich bedingungslos mit den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Kinderarbeit identifiziert. Mit Blick auf die ILO-Konvention 182, die den darin sogenannten „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ gewidmet ist und auf deren sofortige Abschaffung zielt, ergibt sich das Problem, dass die Arbeit der Kinder mit Tatbeständen vermengt wird, die Verbrechen an den Kindern darstellen und gänzlich andere Maßnahmen erforderlich machen. Dies ist z.B. der Fall, wenn im Report die Rekrutierung der Kinder für Kriegszwecke („Kindersoldaten“) angeprangert wird (S. 14).

Gänzlich in die Sackgasse verrennt sich der Report, wenn er sich auf die ILO-Konvention 138 bezieht, in der Mindestalter für die Erwerbsarbeit von Kindern festgeschrieben und als Lösung für das „Problem der Kinderarbeit“ ausgegeben werden. Unterhalb des Mindestalters, das lt. dieser Konvention 15 Jahre bzw. in Fällen „leichter Arbeit“ 13 Jahre beträgt, wird nicht mehr nach den Bedingungen gefragt, unter denen eine Arbeit ausgeführt wird, sondern sie gilt pauschal als schädlich und soll durch gesetzliche Verbote aus der Welt geschafft werden. Man stelle sich vor, wie eine solche Regelung im Falle der Kinder, die in Syrien oder in Flüchtlingslagern leben, umgesetzt werden soll und welche Folgen ein solcher Versuch hätte. Aus der einschlägigen Forschung, die sich auf andere Länder bezieht, geht jedenfalls zweifelsfrei hervor, dass die Anwendung dieser Konvention immer wieder dazu geführt hat, arbeitende Kinder, die das Mindestalter noch nicht erreicht haben, in einen Zustand der Rechtlosigkeit zu versetzen und noch schutzloser zu machen. Im Report führt die Orientierung an der ILO-Konvention 138 zur absurden Empfehlung an die Arbeitgeberorganisationen, sie sollten „ihre Mitglieder (…) dafür sensibilisieren, keine Kinder einzustellen“, oder an die Gewerkschaften, sie sollten „ihre Mitglieder dafür sensibilisieren, Fälle von Kinderarbeit zu melden“ (S. 47). Wie soll aber angesichts solcher Empfehlungen dem ebenfalls im Report zu findenden Appell Rechnung getragen werden, arbeitende Kinder nicht zu kriminalisieren, „da Kinderarbeit eine verzweifelte Überlebensstrategie ist“ (S. 46)?

Der Report beruft sich auch auf die UN-Kinderrechtskonvention und erhebt den Anspruch, die Rechte der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. In dieser Konvention wird den Kindern das Recht zugesichert, „vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu einer Arbeit herangezogen zu werden, die Gefahren mit sich bringen, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte“ (Art. 32.1). Von „Kinderarbeit“ ist an keiner Stelle die Rede. In den Empfehlungen des Reports werden die Rechte auf Bildung und Gehör hervorgehoben. „Das Recht auf Bildung für alle Flüchtlingskinder sollte als Schlüssel zur Überwindung von Kinderarbeit verwirklicht werden und informelle Bildung sowie Berufsbildung beinhalten“ (S. 46). Auf diese Weise wird das Recht auf Bildung zu einem Instrument für einen von außen gesetzten Zweck entwertet, weit entfernt von dem umfassenden Verständnis, das ihm in der UN-Kinderechtskonvention zukommt. Wenn der Report darüber hinaus postuliert: „Das Recht der Kinder, gehört zu werden, sollte im Lösungsprozess umgesetzt werden“ (S. 46) – so fragt sich, wie dieses Recht ernstgenommen werden soll, wenn die arbeitenden Kinder im gesamten Report selbst nicht als Subjekte mit eigenen Sichtweisen und eigenem Handlungsvermögen ernstgenommen werden. An keiner Stelle des Reports werden die Tätigkeiten der Kinder als Beitrag zur Lösung der Probleme gewürdigt, geschweige denn darüber nachgedacht, wie arbeitende Kinder zum Teil anzustrebender Lösungen werden könnten.

Auf der Website von terre des hommes Deutschland wird seit Jahren ausdrücklich dafür plädiert, „die Kinderarbeit nicht generell zu bekämpfen, wohl aber jede Form der Ausbeutung. Kinder arbeiten, weil die Familien arm sind. Damit Kinderarbeiter und ihre Familien wirklich eine Alternative haben, reicht es nicht, sie aus Fabriken zu entlassen oder ihnen die Arbeit zu verbieten. Dann würden sie woanders unter noch schlimmeren Arbeitsbedingungen weiter schuften oder auf der Straße landen.“ (https://www.tdh.de/was-wir-tun/arbeitsfelder/kinderarbeit/#c9643). Weiter heißt es: „Wer wirksam gegen die Ausbeutung von Kindern vorgehen will, muss Alternativen schaffen.“ Und:  „Gefördert wird auch die Selbstorganisation arbeitender Kinder, die für bessere Arbeitsbedingungen und das Recht auf Gesundheit kämpfen.“ (http://www.tdh.de/was-wir-tun/arbeitsfelder/kinderarbeit.html). Der von terre des hommes Deutschland mitverantwortete und publizierte Kinderarbeits-Report 2016 lässt daran zweifeln, ob diese Grundsätze noch aufrechterhalten werden.

Eine Langfassung des Artikels von Manfred Liebel erscheint in neue praxis, Heft 6/2016.

Aktualisiert: 31.10.2016