Kinder und Arbeit

Nicht die Arbeit ist für die Kinder das Problem, sondern die oft ausbeuterischen Bedingungen, unter denen sie ausgeübt werden muss. Der Gedanke der „kritischen Wertschätzung“ weist auf diesen Unterschied hin und macht die Notwendigkeit deutlich, die arbeitenden Kinder als soziale und wirtschaftliche Subjekte anzuerkennen.

Arbeitende Kinder statt „Kinderarbeit“

Weite Bereiche der Debatte über „Kinderarbeit“ kranken daran, zu wenig über die damit verbundenen Kindheits- und Arbeitskonzepte zu reflektieren. Der Terminus „Kinderarbeit“ ist eine wertende und emotional aufgeladene „soziale Konstruktion“, die eine angemessene Befassung mit der Thematik erschwert. Seit er in der Zeit des europäischen Frühkapitalismus aufkam, werden mit ihm bestimmte politische und ideologische Intentionen verfolgt und Vorannahmen über Kinder und ihre Beziehung zur Arbeit transportiert. Demnach sind Kindheit und Arbeit zwei verschiedene Stiefel, die nicht zueinander passen.

Diese Vorstellung hat sich so tiefgreifend im Alltagsverständnis (und in gesetzlichen Regelungen) eingenistet, dass die Rede von Kinderarbeit heute automatisch dazu führt, die Arbeit von Kindern ausschließlich unter negativen („schädlichen“) Aspekten wahrzunehmen. Die mit ihm ausgelösten Assoziationen lassen die verschiedenen möglichen Bedeutungen und Aspekte der Arbeit von Kindern nicht zur Geltung kommen. Im Fall der Kinder wird von vorneherein ausgeschlossen, Arbeit als eine Tätigkeit wahrzunehmen, die der Lebenserhaltung dient und dem Menschen erlaubt, sich als tätiges Subjekt zu verstehen, das einen Beitrag zum Erhalt und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft leistet. Mit dem Terminus „Kinderarbeit“ wird weiterhin ausgeblendet, dass Arbeit stets unter verschiedenen Bedingungen ausgeübt werden kann. Während bei Erwachsenen die spezifischen Bedingungen der Arbeit herangezogen werden, um die Arbeitsqualität zu beurteilen, reicht bei Kindern allein der Verweis auf ihr Alter aus, um ihre Arbeit zu disqualifizieren.

Wir bestehen deshalb darauf, die Arbeit der Kinder differenziert zu betrachten und dabei die Selbstwahrnehmung und Urteile der arbeitenden Kinder ernst zu nehmen. Statt von Kinderarbeit sollte von arbeitenden Kindern die Rede sein. Die Arbeit der Kinder sollte nicht, wie der Terminus „Kinderarbeit“ suggeriert, an ideologischen Zielen gemessen, sondern als eine Erfahrung der Kinder selbst verstanden werden, die je nach Art und Bedingungen der Arbeit und je nach Lebenssituation der Kinder gänzlich verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Statt die Arbeit der Kinder zu ächten, verlangen wir, die arbeitenden Kinder zu achten. Statt den Kindern die Arbeit zu verbieten, sollten sie selbst die Freiheit haben, zu entscheiden, ob, wie und ab welchem Alter sie arbeiten wollen. In diesem Sinne sollten sie ein Recht haben zu arbeiten. Dies entspricht den Forderungen, die arbeitende Kinder vor allem im Globalen Süden immer wieder formulieren, wenn sie sich in eigenen sozialen Bewegungen zusammenschließen und als politische Akteur*innen artikulieren.

Arbeitende Kinder und kritische Wertschätzung ihrer Arbeit

Es ist merkwürdig, dass es immer noch so schwer ist, sich von der Vorstellung des arbeitenden Kindes ausschließlich als Opfer freizumachen. Das Kind wird in allen Berichten über die menschliche Entwicklung erwähnt, aber es wird kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn gewürdigt, dass Millionen Kinder mit ihrer Arbeit dazu beitragen, soziale Systeme aufrecht zu erhalten. Wer dies jedoch tut, sieht sich, besonders in offiziellen Dokumenten internationaler Organisationen, mit dem Vorwurf konfrontiert, man wolle die Ausbeutung der Kinder rechtfertigen.

Demgegenüber gilt es festzuhalten: Wenn wir nicht klar und deutlich unterscheiden zwischen der Bekämpfung der Ausbeutung bei der Arbeit und der Bekämpfung der Arbeit an sich, oder uns weiterhin einer Sprache bedienen, die diesen Unterschied nicht klar hervorhebt, werden wir in unseren Analysen ebenso wenig wie in der Praxis der sozialen Realität der arbeitenden Kinder gerecht. Wir tragen dadurch indirekt sogar zur Gewalt gegen diese Jungen* und Mädchen* bei, oder zumindest zu ihrer harten und von Misstrauen geprägten Behandlung durch die Gesellschaft.

Arbeit ist wichtig für das Selbstwertgefühl

Wenn wir von „kritischer Wertschätzung“ der Arbeit der Kinder sprechen, achten wir auf beides: auf die problematische Form und die Bedingungen der Arbeit, die der körperlichen und geistigen Entwicklung entgegenstehen, aber eben auch auf die Möglichkeiten, die sich aus der Arbeitserfahrung für Kinder ergeben. Es stellt sich die Frage, ob die Arbeit mehr sein kann, als nur das physische Überleben zu garantieren, oder ob sie auch eine positive Rolle bei der Identitätsbildung von Kindern und bei der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls spielen kann.

Die üblichen Definitionen, die sich um die Arbeit von Kindern ranken, sind konzeptionelle Käfige, die uns die Wahrnehmung und die Gedanken beschränken: Arme Kinder, Straßenkinder, Kinder in Gefahr, marginalisierte Kinder, kriminelle Kinder, Kinder in besonders schwierigen Situationen, vergewaltigte Kinder, abgelehnte Kinder, abgeschobene Kinder; Sklaven- und Pariakinder, „Kinder ohne Kindheit“ eben. Ein Universum des Negativen, des Mangels und der Leere.

Es lässt sich nicht leugnen, dass es konkrete und schreckliche Wurzeln gibt, aus denen diese Kategorisierungen entspringen. Aber die Frage, die sich diejenigen stellen, die den Standpunkt der kritischen Wertschätzung vertreten, ist folgende: Welche Identität kann sich das arbeitende Kind aufbauen, wenn es hört, in welcher Weise von seinen Erfahrungen, von seiner Realität, von seinem Leben und von seiner „Kindheit“ gesprochen wird? Welches Lebens-, Mitbestimmungs-, Bildungs- und Emanzipationsprojekt können wir mit ihm teilen und ihm anbieten?

Den arbeitenden Kindern zuhören

Vielleicht sollten wir den arbeitenden Kindern besser zuhören. Einmal begleiteten wir eine Gruppe arbeitender Kinder beim Besuch einer Schule der gehobenen Mittelklasse. Seine Eindrücke fasste eines der Kinder mit den Worten zusammen, die anderen Kinder seien „faul“. Hier erfolgte die Stigmatisierung einmal anders herum: die Tatsache, Arbeiter*in zu sein, wird zu einem Mittel der psychologischen Emanzipation und ist vielleicht das einzige Element der Selbstidentifizierung, das den arbeitenden Kindern Kraft gibt, wenn sie den anderen, so verschiedenen, so sauberen und so privilegierten Kindern gegenüberstehen.

Aus dem gleichen Grund beschimpfen z.B. die arbeitenden Kinder der nigerianischen Stadt Lagos die Kinder der höheren Klassen als „Butterfresser“. Oder wehren sich die jungen Schuhputzer von Asunción in Paraguay ganz energisch dagegen, sich als „Straßenkinder“ bezeichnen zu lassen. „Wir“, so sagen sie voller Stolz, „sind arbeitende Kinder“. Und worauf beziehen sich die brasilianischen arbeitenden Kinder, wenn sie von „Geld machen“ sprechen? Genau auf das Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Rolle, auf die Bedeutung ihres Beitrags. „Die Arbeit hilft mir, Mensch zu sein“, schrieb ein Delegierter von MANTHOC in Peru auf ein Papier, und dieser Satz fasst besser als jede Analyse den Sinn dessen zusammen, was wir unter „kritischer Wertschätzung“ verstehen.

In seinen Reflexionen über die „Wirtschaft der Barfüßigen“ lehrt uns der chilenische Ökonom und Ökologe Max Neef, in der „Bedürftigkeit“ nicht nur ein Element des Mangels, des Fehlens und der Leere zu sehen, sondern auch ein dynamisches Element, das zur Überwindung der Bedürftigkeit aktiviert werden kann. In diesem Sinn geht der Gedanke der kritischen Wertschätzung der Arbeit der Kinder von einem dialektischen Grundsatz aus, indem er ihre Problematik anerkennt und sich der nie ganz überwundenen Spannung zwischen den beiden Gegenpolen stellt: auf der einen Seite der Zwang, die Gewalt und die Ausbeutung und auf der anderen die individuelle und kollektive Reaktion auf Armut und Ausgeschlossen sein.

Arbeitende Kinder sind kritische Akteur*innen

Hier findet der Gedanke der kritischen Wertschätzung sein wichtigstes theoretisches und praktisches Rüstzeug. Die Betonung der Identität des arbeitenden Kindes, sie zu verwandeln in ein Element des Selbstwertgefühls, des persönlichen und gemeinsamen Erkennens und Anerkennens, der sozialen Integration, der Bildung und schließlich ein Element der sozialen Subjektivität, der Organisation, der Veränderung und der politischen Macht. All dies eröffnet neue Horizonte, die uns in die Lage versetzen, mit den lähmenden Schemata der rettenden Hilfe, der autoritären Solidarität und des ethischen Pietismus zu brechen.

Kritische Wertschätzung der Arbeit der Kinder bedeutet also alles andere als eine Wertschätzung der Ausbeutung und der Ausbeuter*innen. Sie ist in erster Linie eine Wertschätzung der arbeitenden Kinder und ihrer Eigenschaft als potentielle kritische Akteur*innen gegen die Mechanismen der Ungerechtigkeit, als historische Erscheinung mit dem Recht, als soziale Gruppe und nicht nur als eine Ansammlung individueller Notfälle anerkannt zu werden.

Aktualisiert: 14.12.2020