Globalisierung und die Arbeit der Kinder

Die Globalisierung hat ein widersprüchliches Gesicht. Auf der einen Seite erhöht sie für arbeitende Kinder die Risiken, ausgebeutet und marginalisiert zu werden. Auf der anderen Seite eröffnet und provoziert sie neue Möglichkeiten des Widerstandes. Indem sich die arbeitenden Kinder international organisieren, begegnen sie der neoliberalen Globalisierung mit einer Globalisierung von unten.

Widersprüchliche Globalisierung

Bislang sind die möglichen Zusammenhänge von Globalisierung und der Situation arbeitender Kinder wenig diskutiert worden. Selbst in den globalisierungskritischen Bewegungen wird das Thema kaum angesprochen, und wenn es geschieht, dann folgt die Diskussion eingefahrenen Mustern: Arbeit gilt für Kinder generell als schädlich und wird pauschal verdammt, „die Schule“ wird ebenso pauschal als Alternative idealisiert. Im „Fairen Handel“ gelten nur Produkte als sauber, die „frei von (illegaler) Kinderarbeit“ sind. Da die Kinder nur als Opfer betrachtet werden, wird kaum wahrgenommen, dass sich in Lateinamerika, Afrika und Asien arbeitende Kinder seit Jahren in eigenen Bewegungen organisieren, die sich neoliberaler Politik widersetzen, gegen Verarmung und Ausbeutung kämpfen und sich für ein menschenwürdiges Leben und Arbeiten einsetzen.

Mit Blick auf politische Strategien ist es nicht ausreichend, Globalisierung nur als eine Art Verhängnis zu betrachten, welches über die Menschen hereinbricht. Stattdessen kommt es darauf an, den zur Substanz geschmiedeten Globalisierungsbegriff zu entmythologisieren, indem wir uns seiner völlig widersprüchlichen Wirklichkeitsschichten vergewissern. Globalisierung in ihrer aktuellen neoliberal geprägten Gestalt verstehen wir als eine Form materieller und ideologischer Gewalt, die von privilegierten ökonomischen und politischen Schichten gezielt eingesetzt wird, um sich gegenüber v.a. der Mehrheitsgesellschaft im Globalen Süden Vorteile zu verschaffen. Ehedem koloniale Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse werden so in veränderten Formen reproduziert und bekräftigt. Doch diese Prozesse sind mit ungewollten Nebenfolgen verbunden, die als Widersprüche in Erscheinung treten und von den betroffenen Menschen aufgegriffen und genutzt werden (können). Dabei ist es wichtig, neben den ökonomischen auch die kulturellen und sozialen Aspekte der Globalisierungsprozesse ins Auge zu fassen.

Globalisierung als materielle Gewalt

Die unter neoliberalen Vorzeichen erfolgende Globalisierung führt zu wachsender sozialer Ungleichheit in der Welt zwischen a) Regionen, b) Menschen (auch innerhalb der Regionen). Sie vergrößert die Kluft zwischen denen, die abhängig, verschuldet und arm sind, und denen, die von der wachsenden Abhängigkeit, Verschuldung und Armut der anderen profitieren. Sie gefährdet und zerstört die Formen des Wirtschaftens, die an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet und auf lokale Märkte bezogen sind. Sie gefährdet und zerstört damit die Lebensgrundlagen vor allem der ländlichen Bevölkerung des Globalen Südens.

Globalisierung in diesem Sinne reduziert die Menschen auf ihre Funktion als Träger von Arbeitskraft und gefährdet und zerstört damit Sinngehalte und Würde der Arbeit. Zugleich reduziert sie die Gelegenheiten, eine Arbeit zu finden, deren Lohn ein Leben in Würde ermöglicht. Sie macht eine wachsende Zahl von Menschen von Ausgebeuteten zu gänzlich aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Ausgeschlossenen und lässt sie als gänzlich überflüssig erscheinen.

Aus diesen Prozessen ergibt sich, dass immer mehr Menschen a) ihre angestammten Orte verlassen und in Regionen emigrieren müssen, in denen sie noch eine bezahlte Arbeit finden können; b) mit Arbeiten vorliebnehmen müssen, die unter entwürdigenden Bedingungen und bei dürftiger Bezahlung verrichtet werden; c) sich selbst Einkommensquellen in den „informellen“ Nischen der offiziellen Ökonomie und am Rande der Legalität erschließen müssen. Zusätzlich werden die Bildungs- und Sozialsysteme eingeschränkt, „informalisiert“ und „ökonomisiert“ und bleiben damit tendenziell nur noch für diejenigen zugänglich, die über materielle Ressourcen verfügen.

Für viele arbeitende Kinder bedeutet dies, dass Arbeitsformen, in denen sie bislang respektiert wurden und in denen auf ihre physischen und psychischen Bedürfnisse Rücksicht genommen wurde, tendenziell verwandelt werden in Arbeitsformen, in denen die Kinder nur noch als (billige) Arbeitskraft zählen und bis zu einem Maximum ausgebeutet werden. Mit der wachsenden Armut erhöht sich für die Kinder und ihre Familien der Druck, auf die Arbeitskraft der Kinder unter allen Umständen zurück zu greifen, um den Lebensunterhalt zu gewährleisten. Die Möglichkeiten der Kinder, eine ihnen angemessene Arbeit zu finden, werden erheblich eingeschränkt.

Kinder müssen mit ihren Familien und mitunter auch ohne sie die angestammten Lebensorte verlassen, und werden gezwungen, als Saisonarbeiter*innen auf Exportplantagen, als „Alleskönner*innen“ in der informellen Ökonomie oder als Dienstkräfte der wohlhabenden (Stadt-) Bevölkerung unter (meist) entwürdigenden Bedingungen zu arbeiten.

Unter dem Druck der materiellen Nöte verstärken sich Stress, Konflikte und Gewalt in den Familien und befördern die Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Kindern. Eigene Optionen bleiben den Kindern oft nur noch, indem sie ihre Familien verlassen, und auf der Straße oder an fernen Orten ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Aus dem gleichen Grund verstärken sich patriarchale Strukturen. Auf Mädchen* lastet eine weitaus größere Verantwortung für den Lebensunterhalt der Familien als auf Jungen*, sie arbeiten zu Hause und außer Haus mehr, länger und meist geringer bezahlt als Jungen, und sie werden, wenn die Ressourcen der Familie nicht ausreichen, eher an einer eigenen Lebensplanung gehindert und aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.

Globalisierung als ideologische Gewalt

Die neoliberale Globalisierung gefährdet lokale Kulturen und wertet die in ihnen praktizierten Gruppenbeziehungen und die gegenseitige Solidarität ab. Sie trachtet danach, sie durch eine konkurrenzbetonte, individualistische Lebensweise zu ersetzen, die den eigenen Vorteil – und sei es auf Kosten anderer – betont. Arbeit, die als Teil des Gemeinschaftslebens und des Sozialisationsprozesses nachwachsender Generationen verstanden und praktiziert wurde, wird durch eine instrumentelle Arbeitshaltung ersetzt, die nur die individuelle Leistung und Effektivität im Sinne der möglichst billigen Inanspruchnahme der Arbeitskraft gelten lässt.

Mit der Globalisierung werden die Kinder, dort wo sie (insbesondere in nicht-westlichen Kulturen) eine aktive Rolle im Gemeinschaftsleben gespielt und handelnd gelernt haben, zu Objekten von Erziehungsmaßnahmen degradiert und in formale Institutionen verbannt, die bestenfalls der Heranbildung verwertbaren Humankapitals dienen. Kindheit wird weltweit privatisiert und passiviert.

Die traditionelle Einbeziehung der Kinder in gemeinschaftlich organisierte Arbeitsprozesse wird erschwert und da, wo sie weiterhin stattfindet, als unzeitgemäß und kinderfeindlich diskriminiert. Die Arbeit der Kinder verliert ihre soziale Anerkennung und wird nur noch als Notbehelf in materiellen Extremsituationen geduldet. Die Arbeitserfahrung der Kinder wird als gesellschaftlich belanglos abgewertet.

Die Arbeit der Kinder gerät in Konflikt mit den Anforderungen des formalen Bildungssystems. Sie dient nicht mehr dazu, wichtige gesellschaftliche Erfahrungen zu vermitteln und lebensnotwendige Kenntnisse sich anzueignen, sondern wird zur Behinderung für die erfolgreiche Teilnahme am Schulsystem. Gleichwohl wird die Arbeitskraft der Kinder in Anspruch genommen, sei es aus der Not heraus, sei es um sie als Profitquelle zu nutzen. Damit geht der Erfahrungs- und Bildungsgehalt der Arbeit verloren und sie wird zu einem Mittel der physischen und psychischen Zerstörung der Kinder und ihrer Zukunft.

Form- und Bedeutungswandel der Arbeit von Kindern

Um die Implikationen der Globalisierung für die arbeitenden Kinder zu analysieren, muss zwischen den strukturellen Aspekten und den sich ändernden Bedeutungen der Arbeit für die Kinder unterschieden werden. Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass es sich um widersprüchliche Prozesse handelt, bei denen sich ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen verschränken. Worin bestehen die neuen Formen und Beziehungen, die die Arbeit der Kinder kennzeichnen und welches sind ihre neuen Bedeutungen für die arbeitenden Kinder?

Mit der Globalisierung erhöht sich – im Vergleich zur vorherigen Etappe des Kapitalismus – die Zahl der Kinder, die wirtschaftliche und soziale Verantwortung für ihre Familien und für sich selbst übernehmen. Das heißt, immer mehr Kinder haben Arbeitserfahrungen und spielen eine wichtige Rolle in den Produktions- und Reproduktionsprozessen der verschiedenen Gesellschaften. Die Bedeutungen für die Kinder können sehr verschieden sein. Sie hängen ab von den Bedingungen, unter denen sie arbeiten, und ihren individuellen und kollektiven Ressourcen für die Interpretation und den Umgang mit ihren Erfahrungen. Diese Ressourcen ergeben sich bis zu einem gewissen Grad aus dem sozialen und kulturellen Umfeld, in dem die Kinder leben und sich verorten. Dabei spielen die Kulturen der Arbeit ebenso eine wichtige Rolle, wie die Existenz sozialer Bewegungen der arbeitenden Kinder sowie von Projekten und Initiativen, die sich für die arbeitenden Kinder und ihre Rechte einsetzen.

Der größte Teil der Arbeit der Kinder, den die Globalisierung befördert, ist in der „informellen“ Ökonomie angesiedelt. Es handelt sich um wenig regulierte Arbeitsformen, in den urbanen Zentren ebenso wie in ländlichen Regionen. Es handelt sich nicht notwendigerweise um Arbeitsverhältnisse vom Typ der Lohnarbeit, aber die Kinder werden hauptsächlich als Arbeitskraft betrachtet oder müssen sich selbst so sehen, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Mit der Informalisierung erhöhen sich die Unsicherheit und die Risiken im Leben der Kinder und ihrer Eltern. In diesem Sinn unterscheidet sich der größte und wachsende Teil der Arbeit der Kinder von der „Informalität“ der Arbeit einer an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten Ökonomie, wie wir sie z.B. aus den indigenen Kulturen Süd- und Mittelamerikas kennen.

Gleichwohl hat die moderne Informalität, die mit der Globalisierung entsteht, ein doppeltes Gesicht: in ihr kreuzen sich Formen extremer Ausbeutung mit Formen einer solidarischen Ökonomie. Die Informalisierung der Arbeit bedeutet nicht zwingend, dass die Kinder zu reinen Objekten reduziert werden, sondern sie kann auch neue soziale Räume für das eigene Leben eröffnen. Dies hängt wiederum von den Arbeitsbedingungen und dem sozialen und kulturellen Umfeld ab, in dem sich die Kinder befinden, und – nicht zuletzt – von ihren Möglichkeiten und ihrer Fähigkeit, sich zu organisieren.

Globalisierung provoziert den Widerstand der arbeitenden Kinder

In erster Linie ist die Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen ein gewaltsamer Prozess, sei es in materieller, sei es in ideologischer Hinsicht. Sie stürzt viele Menschen in abgrundtiefe Armut und gefährdet ihre physische Existenz und persönliche Würde. Sie zwingt sie, ihre ursprünglichen Lebensorte zu verlassen und sich einem Leben in Unsicherheit und unter unwürdigen Bedingungen in bisher nicht gekanntem Maße auszusetzen. Gleichwohl entstehen auch neue Möglichkeiten für die Menschen, sich ihres Rechts auf ein würdiges Leben ohne Armut zu versichern und diesen Anspruch öffentlich auszudrücken. Das erfahrene Leiden wird immer seltener als gottgewollt oder als unabwendbares Schicksal verstanden, sondern als Konsequenz einer bestimmten Politik (in diesem Fall der neoliberalen), und kann zur Handlungsprovokation werden.

Wenn die Kinder sich heute neuen Arbeitsverhältnissen (vor allem der Ausbeutung) ausgesetzt sehen, sind sie mehr als zuvor in der Lage, diesen Zustand als eine Verletzung ihrer Rechte und als Missbrauch ihrer Person wahrzunehmen und darauf zu bestehen, dass ihnen eine Arbeit und ein Leben in Würde ermöglicht wird. Das Übermaß an Arbeit und die vielfache Ausbeutung, die auf den Mädchen* lasten, können von diesen eher als eine Verletzung ihrer Gleichberechtigung erkannt werden, und sie werden häufiger öffentlich in Frage gestellt. Wenn auf ein Kind als Teil der Familienarbeitskraft zurückgegriffen wird, erscheint dies nicht mehr als quasi natürlicher Vorgang, sondern das Kind kommt eher auf die Idee, über den Lohn seiner Arbeit selbst verfügen zu wollen. Wenn Kinder eine Arbeit ausüben, machen sie dies öfter nicht mehr nur, um einer Notlage zu begegnen, sondern auch um persönliche Bedürfnisse zu befriedigen und mehr Autonomie zu erreichen.

Ohne Zweifel werden mit der Globalisierung traditionelle Lebensformen und Kulturen in ihrer Existenz bedroht. Gleichwohl entstehen mit ihr auch neue Möglichkeiten, andere Lebensformen und Kulturen kennen zu lernen, den eigenen Informationshorizont zu erweitern und mit Menschen in anderen Teilen der Welt zu kommunizieren. Die Bewegungen der arbeitenden Kinder z. B. stellen ein internationales Netzwerk dar, der die neuen Kommunikationstechnologien selbstbewusst nutzt.

Mit der Globalisierung und dem Einsatz neuer Technologien entwickeln sich „Entgrenzungen“ der Arbeitsorganisation und es kommt zu neuen Vermischungen von Arbeits- und Lebenssphäre, von Arbeits- und „Freizeit“. Sie stehen im Zusammenhang mit einer „Resubjektivierung“ der Gesellschaft, die den Individuen mehr Verantwortung für ihre Reproduktion und Lebensplanung aufbürdet. Beide Prozesse können den Druck auf die Menschen erhöhen, sich permanent für die Verwertung ihrer Arbeitskraft verfügbar zu halten und zu machen („Arbeitskraftunternehmer*innen“), sie erhöhen unter Umständen aber auch den Handlungsraum der Menschen, um ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Für und vonseiten der Kinder entstehen neue Formen und Bereiche des Handelns, in denen sie sich als aktive Subjekte verstehen und in denen die Grenzen zwischen Arbeit und vergnüglichen, lernenden oder sozialen Aktivitäten nicht mehr so fest wie bisher umrissen sind. Obgleich sich damit gewiss das Risiko für die Kinder erhöht, instrumentalisiert und ausgebeutet zu werden, so ergeben sich doch auch mehr Möglichkeiten, das Leben in eigener Verantwortung zu gestalten.

Aktualisiert: 14.12.2020